Theorie:

Wir beginnen das Kapitel mit einem Beispiel. Eine Anlegerin zahlt am 1. Januar bei einer Bank ein Kapital \(K_0=1\) Euro ein, und die Bank bietet ihr eine jährliche Verzinsung \(p\) an (zum Beispiel \(p=0,1\), also \(10\%\), was leider in der Wirklichkeit kaum der Fall sein wird). Nach Ablauf des Jahres kommen deswegen zum Betrag \(K_0\) die Zinsen \(p\cdot K_0\) dazu. Aus dem Startkapital \(K_0\) ist somit das Kapital
 
\(K_1=(1+p)\cdot K_0=1,1\,\text{Euro}\)
 
geworden. Hier wurde also der ganze Betrag einmal, am Ende des Jahres, verzinst. Doch es gäbe auch die Möglichkeit, das Kapital unterjährig zu verzinsen, d.h. mehrmals pro Jahr. Die Bank könnte das Kapital nicht jährlich, sondern z.B. halbjährlich verzinsen, und die Zinsen pro Halbjahr wären dann \(\frac p2\) (die Zinsen sind jetzt nur halb so groß, dafür wird ja zweimal jährlich verzinst). Nach einem halben Jahr wäre somit aus dem Startkapital \(K_0=1\) der Betrag
 
\(K_{1/2} = (1+\frac p2)\cdot K_0=1,05\,\text{Euro}\)
 
geworden. Wie geht es das nächste halbe Jahr weiter? Wendet man die Zinseszinsrechnung an, so würde man die nach einem halben Jahr dazugewonnenen Zinsen das nächste halbe Jahr gleich mitverzinsen. Man käme nach Ablauf des zweiten Halbjahres auf den Betrag
 
\(K_1'= (1+\frac p2)^2K_0 = \big(1+p+\frac{p^2}{4}\big)\cdot K_0 = 1,1025\,\text{Euro}\).
 
Das ist etwas mehr, als wenn wir \(K_0\) nur einmal am Ende des Jahres mit dem Zinssatz \(p=0,1\) verzinst hätten. Die halbjährliche Verzinsung führt zum gleichen Ergebnis wie ein Jahreszinssatz von \(0,1025\), also \(10,25\%\), was etwas mehr ist als \(10\%\)!
 
Man könnte das Kapital nun nicht halbjährlich verzinsen, sondern monatlich, zu einem anteilsmäßig verringerten, monatlichen Zinssatz von \(\frac p{12}\). Gemäß der Zinseszinsrechnung müssen wir nun jeden Monat den Grundbetrag sowie alle bisher angefallenen Zinserträge neu verzinsen. Nach einem Monat wäre aus dem Kapital \(K_0\) der Betrag
 
\(\big(1+\frac p{12}\big)\cdot K_0\)
 
geworden, nach \(2\) Monaten der Betrag
 
\(\big(1+\frac p{12}\big)^2\cdot K_0\),
 
für jeden weiteren Monat kommt dann ein weiterer Faktor \(1+\frac p{12}\) dazu. Nach \(12\) Monaten hätten wir somit den Betrag (Taschenrechner verwenden!)
 
\(\Big(1+\frac p{12}\Big)^{12}\cdot K_0=1,1047\ldots\,\text{Euro}\).
 
Gehen wir nun noch einen Schritt weiter: Was, wenn wir das Kapital sogar täglich zu einem Tageszinssatz von \(\frac p{365}\) verzinsen? Mit einem Taschenrechner können wir das Ergebnis noch ausrechnen
 
\(\Big ( 1+\frac{0,1}{365}\Big)^{365}\cdot 1\approx 1,1051558\,\text{Euro}\).
 
Man kann immer feinere Zeit-Unterteilungen wählen, und die Zinssätze entsprechend anpassen. Teilen wir ganz allgemein das Jahr in \(n\) Zeitintervalle (wie vorher die \(12\) Monate oder \(365\) Tage), und wählen wir für jedes dieser Zeitfenster den anteilsmäßig verringerten Zinssatz \(\frac pn\), so ist der Betrag, auf den gemäß Zinseszinsrechnung das Kapital \(K_0\) nach einem Jahr angewachsen ist, gleich
 
\(\Big(1+\frac pn\Big)^n\cdot K_0\)
 
Lassen wir hier nun \(n\to \infty\) gehen, so erhalten wir für \(p=0,1\) und \(K_0=1\):
 
\(\displaystyle\lim_{n\to\infty}\Big(1+\frac pn\Big)^n\cdot K_0=\lim_{n\to\infty}\Big(1+\frac {0,1}n\Big)^n=1,10517\ldots\,\text{Euro}\).
 
D.h. wenn wir das Startkapital laufend ("jeden Augenblick") verzinsen, wobei wir den Zinssatz \(0,1\) anteilsmäßig aufteilen, so kommen wir mit Zinseszinsrechnung nach einem Jahr auf Zinsen, die einem Jahreszinssatz von rund \(0,10517\) (also \(10,517\%\)) entsprechen.
Für jede reelle Zahl \(p\) existiert der Grenzwert
 
\(\displaystyle\lim_{n\to\infty}\Big(1+\frac pn\Big)^n\).
Es stellt sich heraus, dass dieser Grenzwert leicht zu bestimmen ist:
Für jedes \(p\in\mathbb R\) gilt für diesen Grenzwert
 
\(\displaystyle\lim_{n\to\infty}\Big(1+\frac pn\Big)^n = e^p\),
 
das ist die Exponentialfunktion zur Basis \(e=2,7182818\ldots\). Die Zahl \(e\) ist die Eulersche Zahl.