Theorie:
Österreichischer Naturalismus
Dichtung im naturalistischen Geist gab es in Österreich schon bei Ferdinand von Saar, Ludwig Anzengruber usw., noch ehe in Berlin die Bewegung des "Naturalismus" entstand. Der deutsche Naturalismus kam etwa um 1890 von Berlin nach Wien.
Er begann mit Aufführungen einzelner Werke von Henrik Ibsen, Hermann Sudermann und Gerhart Hauptmann auf den Wiener Bühnen. Die Anhänger der "Moderne" (dieses Wort fand durch Hermann Bahr in Wien Verbreitung) bewahren aber ihre österreichische Eigenart.
Die Form des österreichischen Naturalismus war gedämpft und verfeinert. Er war keine revolutionäre Sturm-und-Drang-Periode und verfiel nur selten in die abstoßenden Extreme des "konsequenten Naturalismus", dessen ungeschminkte Hässlichkeit der fröhlicheren und schönheitsdurstigen Weltanschauung der Österreicher nicht gefiel. Früh zeigte sich aber der Hang zur Geißelung von sozialen Missständen, um deren Beseitigung herbeizuführen.
Die Hauptvertreter dieser Richtung waren drei Frauen: Ada Christen, Berta von Suttner und Marie Eugenie delle Grazie.
Ada Christen (1844 - 1901)
Mit ihrer frühnaturalistischen Dichtung betrat sie für Österreich damals gänzlich neue Wege. Ihre Lyrik "Lieder einer Verlorenen" sind von Leidenschaft und Wahrheitsliebe erfüllt, ursprünglich und mit unverbrauchter Kraft geschrieben. Mit hoher Kunst gestaltet sie das erotische Erlebnis in ungehemmter Offenheit.
Auch in der Epik ging sie neue Wege mit realistischen sozialkritischen Darstellungen aus dem Leben der Gegenwart; eigene Eindrücke aus der Zeit, in der sie selbst einer Wanderbühne angehörte, verarbeitete sie in dem Roman der Schmierenkomödiantin "Ella".
Größte Reife erreichen ihre Erzählungen. Ihr bestes Prosawerk ist der Roman "Jungfer Mutter".
Ein Aufschrei menschlichen Elends ist das kleine Gedicht "Not":
Not
All euer girrendes Herzeleid
tut lange nicht so weh
wie Winterkälte im dünnen Kleid,
die bloßen Füße im Schnee.
All eure romantische Seelennot
schafft nicht so herbe Pein,
wie ohne Dach und ohne Brot,
sich betten auf einen Stein.
Bertha von Suttner (1843 - 1914)
Die geborene Gräfin Kinsky war eine Dame der Prager Gesellschaft, die rücksichtslos die Missstände in Offiziers- und Adelskreisen ans Licht zerrte und bloßstellte.
Sie legte ihre Absicht klar: Kampf um die Wahrheit in allen Dingen, in Staat, Gesellschaft, Ehe, Wahrheit vor allem der eigenen Person gegenüber, Kampf gegen das Verderben der Lüge, besonders in geschlechtlichen Dingen.
In ihren "Memoiren" entwirft sie das Bild ihres bewegten und reich erfüllten Lebens, ein Gutteil der ganzen damaligen europäischen Kultur und des Gesellschaftslebens darstellend.
Ihr bekanntestes Werk war "Die Waffen nieder", eine erschütternde Anklage und grauenhafte Darstellung der Kriegsgräuel des Jahres 1866, die sie zum Teil selbst mitangesehen hatte. Sie begründete auch die internationale Friedensliga und erhielt für ihre Verdienste um die Bekämpfung des Krieges mit all seinen Schrecken im Jahr 1905 den Friedensnobelpreis.
Marie Eugenie delle Grazie (1864 - 1931)
Sie war die Tochter eines Bergwerksdirektors aus dem Banat. Schon früh wurde sie durch den Tod des Vaters aus dem behaglichen Wohlstand herausgerissen und in die Wiener Vorstadt verpflanzt. Ihre Bildung ragte weit über die damals übliche der Frauen hinaus.
Schon ihre ersten Werke zeichnen sich durch philosophische Klarheit und formvollendeten Ausdruck aus. Ihr großes weltanschauliches Bekenntnis ist das Epos
"Robespierre"
in dessen 24 Gesängen sie die Französische Revolution dichterisch zu erfassen sucht und soziale, politische und allgemein-menschliche Probleme in moderner Sicht gestaltet.
Karl Schönherr (1867 - 1943)
War einer der bedeutendsten österreichischen Dramatiker. Mit seinen Werken, die hauptsächlich Menschen, Probleme und Ereignisse seiner Tiroler Heimat behandelten, stand er dem Naturalismus sehr nahe (z. B. "Herr Doktor, haben Sie zu essen?").
Quellen:
Schenk, I. (2015): DEUTSCH. Lehrbrief 27, Dr. Roland GmbH, 2. Auflage, Wien
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AAda_Christen_1.jpg (9.5.2016)
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