Theorie:

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Die innere Zerrissenheit von Frank Wedekind (\(1864 - 1918\)) geht vermutlich auf den Gegensatz seiner Eltern zurück, die sich in San Francisco kennengelernt hatten. Nur gelang es ihm, in der Kunst ein Ventil zu finden, während sein jüngerer Bruder durch Selbstmord endete.

Sein Leben war abenteuerlich: neben zahlreichen Tätigkeiten in mehreren europäischen Ländern betätigte er sich als Bühnendichter, Verfasser von Pantomimen, Tanzspielen und Bänkelgesängen und schließlich als Schauspieler und Regisseur. Er begann nach vielen Misserfolgen, Verboten und Angriffen gegen seine Dramen an seiner Sendung und seinem Werk zu verzweifeln.

Den entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben brachte die von Karl Kraus 1905 veranstaltete denkwürdige Aufführung der von der Zensur verbotenen "Büchse der Pandora" in Wien. Er heiratete die damalige Hauptdarstellerin, und eine Periode höchster Schaffenskraft setzte nun ein, es vollzog sich an ihm eine Läuterung und Reinigung, die Zeit des Kampfes war vorbei. Wedekinds Dichtung verlor das allzu subjektive Gepräge und wurde wieder objektive Kunstgestalt.

Nach der Revolution 1918 stand auch den letzten, bis dahin verbotenen, Werken Wedekinds der Weg zur Bühne offen und er wurde in den Nachkriegsjahren zum meistgespielten Dramatiker Deutschlands. Allerdings war es ihm nicht mehr vergönnt, sich an diesem Erfolg seiner Werke zu erfreuen, denn er starb noch vor Kriegsende an einer Blinddarmoperation.
  
Themen

Das Ideal Wedekinds, das er nicht müde wurde zu verkünden, war ein neues Menschentum von Adel und Schönheit, von Anmut und Mut, von Zucht und Kraft - elastisch, meisterlich und wagend. Der moralischen Problematik des naturalistischen Dramas Hauptmanns und Ibsens stellt er das hohe Lied einer körperlichen Kunst, einer Heiligung des Leibes, des Rhythmus und der Schönheit entgegen.

Die Gestalt des griechischen Schönheitsideals wird bis ins Groteske verzerrt, in der Welt des moralisierenden Spießbürgertums ist sie nicht mehr zu finden, wohl aber in Zirkus und Varietee, jenseits der bürgerlichen Welt, in den von ihr ausgestoßenen und entrechteten Gestalten: der Mädchenhändler schafft Freude, die Dirne lebt im Dienst des Eros. Diese Reaktion auf die bürgerliche Moralität aber war genauso nötig, wie seinerzeit das Junge Deutschland gegen die Romantik reagieren musste.

Wedekinds Thematik ist eine beschränkte, immer steht der Kontrast zwischen dem Bürgertum und dem Außenseitertum im Mittelpunkt. Aber mit seinem überschäumenden Einfallsreichtum und seinem glühenden Temperament weiß er dieses Problem immer wieder auf interessante Weise zu gestalten und ihm neue Seiten abzugewinnen.

Die Staatsanwaltschaft, die wiederholt gegen seine "unmoralischen" Werke auftrat und deren erotische Problematik verwarf, verstärkte seinen Widerwillen und seine Auflehnung gegen das Bürgertum und befruchtete seine Fantasie. Wedekind macht sich zum Anwalt der unterdrückten Triebwelt. Dazu Wedekind aus "Über Erotik":
  
Auf keinem anderen Gebiet wuchert so viel Aberglaube, auf keinem andern Gebiete sind so viele grundfalsche "Wahrheiten" im Umlauf, um uns zu den widersinnigsten Tollheiten zu verleiten, wie auf dem der Erotik und Sexualität.
 
Wedekind war bemüht um ein neues Menschentum, er thematisierte immer den Kontrast zwischen Bürgertum und Außenseitertum. Nur in letzteren, also jenseits der bürgerlichen Welt, waren bei ihm Ideale zu finden. Ein weiteres wichtiges Thema war die Kraft der unterrückten Triebe, die mangelnde sexuelle Aufklärung.

Welche unheilvollen Folgen die mangelnde Aufklärung der Jugend über sexuelle Fragen haben kann, gestaltet Wedekind in einem Drama, das wohl als sein bestes zu bezeichnen ist:

"Frühlingserwachen"
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Einband der Originalausgabe von 1891

Diese Kindertragödie, wie sie der Dichter bezeichnet, zeigt die Jugend im Pubertätsalter, die sich unberaten und hilflos den Triebgewalten, die aus dem Frühling ihres Lebens aufstürmen, ausgeliefert sieht. Das Werk wird zur Anklage gegen die Eltern und Erziehenden, die - fast ins Groteske verzerrt - den jungen Menschen feindlich statt helfend gegenüberstehen.
In unnaturalistischer, konzentrierter Sprache schildert der Autor das Liebesleben zwischen dem klugen und feinfühligen Schüler Melchior Gabor und der 14-jährigen Wendla Bergmann, die eben ihr erstes langes Kleid erhalten hat. Dieses junge Paar steht als Verkörperung der ganzen jungen Generation. Wendlas Mutter, die das völlig ahnungslose Mädchen den verantwortungslosen Händen einer Abtreiberin übergibt, als sich Folgen einstellen, ist eine Vertreterin der verlogenen und heuchlerischen Moral der Gesellschaft. Wendla stirbt und Melchior will Selbstmord begehen, doch das Leben, in Gestalt eines geheimnisvollen vermummten Herrn, hindert ihn daran und nimmt ihn mit sich.
 
Seelische Not und Unverstandenheit der Jugend, Heuchelei und die ins Groteske verzerrt Moral der verantwortlichen Aufseherinnen und Aufseher hat Wedekind hier in leidenschaftlichen Worten auf die Bühne gebracht. Nichts Naturalistisches haftet mehr an diesem Drama, es zeichnet Typen und greift bis zum Urgrund der Dinge.

Die Uraufführung 1906 in Berlin wurde ein Sensationserfolg, die Diskussion um das Werk war heftig und langwährend.

"Die Büchse der Pandora"

Wedekinds "Monstertragödie" behandelt den Einbruch eines "wilden Tieres" in die Gehege der bürgerlichen Zivilisation. Es entstand von 1892 - 1902 und wurde in zwei Teilen herausgegeben:

"Der Erdgeist", 1895 erschienen;
"Die Büchse der Pandora", erst 1904 gedruckt.

Fremd und seltsam steht diese Tragödie in ihrer Zeit, der Blütezeit des Naturalismus, weil sie ein tragisches Schicksal entrollt, von einer unentrinnbaren weil ewig menschlichen Tragik. Ein Tierbändiger greift im Prolog die zeitgenössische Dichtung an und stellt die Hauptgestalt vor:
 
Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier,
Das - meine Damen! - sehn Sie nur bei mir ...
(Die Darstellerin der Lulu wird hereingetragen)
Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften,
Zu locken, zu verführen, zu vergiften -
Zu morden, ohne dass es einer spürt.
Mein süßes Tier, sei ja nur nicht
geziert !
Nicht
albern, nicht gekünstelt, nicht verschroben,
Auch wenn die Kritiker dich weniger loben.
 

Lulu, dieses "wilde, schöne Tier", weiß jeden Mann in Ihre Netze zu ziehen und ihn kalt und seelenlos, wie sie ist, zu verderben. Schließlich sinkt sie bis zu einer Dirne niederster Sorte herab und wird nun - welch tragische Ironie - zum Opfer eines Lustmörders.

Die tragische Hauptfigur des zweiten Teiles ist aber nicht die zu einer vorwiegend passiven Rolle verurteilte Lulu, sondern Gräfin Geschwitz, auf der das furchtbare Verhängnis der Unnatürlichkeit lastet - sie liebt Lulu. Sie bringt den Beweis einer fast übermenschlichen Selbstaufopferung und stirbt schließlich als Verteidigern ihrer Freundin den Opfertod.

Wedekind selbst war bei der Veröffentlichung dieser Werke in tiefster Seele von der Überzeugung durchdrungen, damit einer Forderung höchster menschlicher Sittlichkeit zu genügen. Trotzdem war die Diskussion um das Werk heftig und ging sogar bis zu den höchsten gerichtlichen Stellen. Karl Kraus hat sich dafür eingesetzt und 1905 die Aufführung des 2. Teiles in Wien ermöglicht.

Das Drama wurde von Alban Berg als "Lulu" vertont, es erfolgte auch eine Verfilmung mit Nadja Tiller als Lulu.

1898 war bereits die Uraufführung des "Erdgeist" mit großem Beifall erfolgt, Wedekind selbst spielte die männliche Hauptrolle, den Dr. Schön. Von Leipzig aus wurde eine Tournee durch viele Städte Norddeutschlands angetreten.
Weitere Dramen
  
"Der Kammersänger"
Wahre Kunst und das Jagen nach Erfolg werden einander gegenübergestellt.

"Der Marquis von Keith"
Das Drama wurde von Wedekind selbst für seine beste Schöpfung gehalten: wieder bricht ein wildes Tier gleich Lulu in die bürgerliche Welt ein und wird von ihr hinausgeworfen, ein Don Quixote des Lebensgenusses, ein Hochstapler, der um die bürgerlichen Güter, um Geld und Stellung, Erfolg und Genuss seines Lebens kämpft.

"So ist das Leben" ("König Nicolo")
Ist die Tragödie eines verbannten und verkannten Königs, der den Narren spielen muss - ein groteskes Spiel um Wedekinds eigenes Lebensschicksal.

Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich das Wiener Volkstheater um eine Wedekind-Renaissance bemüht und eine ganze Reiher seiner Dramen herausgebracht. Der Erfolg war jedoch nicht unwidersprochen, denn ein Teil seiner Werke bleibt zeitgebunden und seine allegorischen, symbolischen und grotesken Züge, die seine Dramen zu einer Mischung von Tragödie und Puppenspiel machen, erscheinen uns heute zumindest fremd.
 
  
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Das Wiener Volkstheater bemühte sich nach dem Zweiten Weltkrieg um eine Wedekind-Renaissance
Bedeutung  
Die Typisierung der Gestalten und die Hintergründigkeit der Handlung, die über das reale Geschehen hinauswächst, entsprechen bereits vollkommen der expressionistischen Kunstanschauung.

Außerdem gebührt Wedekind der Verdienst, ein bisher immer totgeschwiegenes Gebiet, nämlich die Kraft der Triebe im Menschen, schonungslos ans Licht gezogen und damit besonders Eltern und Erziehende auf die Dringlichkeit und Wichtigkeit der Lösung und Behandlung dieser Fragen hingewiesen zu haben.

Wie den Expressionisten, schwebt auch Wedekind der "neue Mensch" vor: "Die Wiedervereinigung von Heiligkeit und Schönheit als göttliches Idol gläubiger Andacht, das ist das Ziel dem ich mein Leben opfere, dem ich seit frühester Kindheit zustrebe."
 
 
Quellen:
Schenk, I. (2015): DEUTSCH. Lehrbrief 30, Dr. Roland GmbH, 2. Auflage, Wien
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AFrank_Wedekind_(1864%E2%80%931918).jpg (10.6.2016)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AFr%C3%BChlings_Erwachen.jpg (10.6.2016)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AVolkstheater_Vienna_June_2006_240.jpg (15.6.2016)