Theorie:

Ein neues "Ich"
 
Der Expressionismus trat als Weltanschauung der bürgerlich-dekadenten Zivilisation der Jahrhundertwende ebenso wie dem Symbolismus und dem Naturalismus gegenüber - es ist also eine revolutionäre Gegenbewegung zum Naturalismus und seinen Gegenströmungen sowie auch gegen Überschätzung der Naturwissenschaften.

Schon die Bezeichnung "Expressionismus" (von dem franz.: expression = Ausdruck) verkündet den Gegensatz zum "Impressionismus" (der Kunst des Eindruckes). 
Der Kunst der objektiven Betrachtung und Darstellung, wie sie der Naturalismus pflegte, sowie der Kunst des Eindruckes (= Impressionismus) und der Kunst der Symbols (Neuromantik und Symbolismus) wird die Kunst des Inneren, des unmittelbaren seelisch-geistigen Ausdruckes entgegengesetzt.

So wird der Expressionismus zunächst zu einem einzigen gequälten Aufschrei der in die Schranken der bürgerlichen Moral gefesselten Menschheit, sein Inneres bricht in ekstatischer Weise hervor.
  
  
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Nicht nur ein Symbol des Fin de Siècle, sondern auch des Expressionismus: "Der Schrei" von Edvard Munch
  
Diese neue Geistesrichtung strebt also in die Tiefe und bleibt nicht am äußeren Bild der Erscheinungsformen haften. Das Wichtigste ist aber und bleibt das Wesen der Dinge.
 
Expressionismus = Ausdruckskunst (im Gegensatz zum Impressionismus = Eindruckskunst). Sie will das Innere des Menschen, das Wesen der Dinge erfassen. Ziel ist die Erneuerung des Menschen gegen die kapitalistische, industrialisierte Zivilisation, die den Menschen entfremdet.
Die Zeit des Expressionismus

Die pessimistische "Fin-de-siècle-Stimmung" und die Zeit der Dekadenz, getragen von dem satten, überkultivierten Bürgertum, verlangte einen Gegenpol, drängte nach einem Ausgleich.  

In den Jahren vor Beginn des Ersten Weltkrieges erfolgte der große Ausbruch der revolutionären Geistes- und Kunstrichtung des Expressionismus, nach dem Kriege erlebte sie in den Jahren 1920 noch einen Höhepunkt, um bald wieder abzuflauen. Allerdings sind bemerkenswerte Nachwirkungen bis in die Gegenwart spürbar. 
 
Grob gesagt umfasst der Expressionismus etwa den Zeitraum von 1910 bis 1925.
 
Häufig wird diese Strömung als eine speziell deutsche angesehen, was aber nur bedingt richtig ist. Wohl erfolgt der große Aufbruch von Berlin her, wo die neuen Sturm-und-Drang-Anhängenden in der Zeitschrift "Der Sturm" in leidenschaftlicher Weise die neuen Parolen von der Befreiung des Inneren verkünden.
 

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Titelblatt der expressionistischen Zeitschrift "Der Sturm" von 1926

Die großen französischen Malerinnen und Maler, insbesondere jedoch der Niederländer Vincent van Gogh, können schon als Vertretende dieser neuen Richtung angesehen werden.

Zur treibenden Kraft jedoch wurde die Philosophie, die nach einem neuen Halt im Chaos des modernen Lebens suchte und sich wieder auf das Ewige besann. Man bemühte sich, eine höhere, überpersönliche, ewigkeitsgerichtete Weltanschauung zu gewinnen. Eine große Wendung zur Metaphysik und zur Mystik vollzog sich.
Die neue Lebenseinstellung
Die Ausdruckskunst, die in ihrer Grundhaltung nur subjektiv sein kann, führte die jungen Menschen zur Entdeckung seines eigenen Ich

Wie fast jede neue Richtung stand auch der Expressionismus vorerst in schroffem Gegensatz zu den anderen Zeitströmungen; besonders der rational bestimmte Positivismus einerseits und die Überkultur des Bürgertums andererseits wurden von der jungen Generation, die keine Ehrfurcht vor der Überlieferung kannte, kompromisslos abgelehnt und mit aller Kraft bekämpft.

Zuerst musste das eigene Ich errungen werden, dann konnte man von hier aus weiterschreiten und aus dem Chaos eine neue Welt schaffen. Aber die alte Welt musste eingerissen werden

Die Jünger der neuen Lehre blieben allerdings nicht beim Ich stehen, von dem individuellen Ich drangen sie zum großen Wir vor, vom Subjektiven ins Allgemeingültige. Weltverbrüderungs- und Weltversöhnungsideen werden in der Zeit rund um den ersten Weltkrieg vertreten, der Mensch ohne Rücksicht auf politische Anschauung, auf Religion und Rasse tritt hervor, ein allgemeinmenschliches Ethos, ein kosmisches Selbstgefühl wird angestrebt.

In allem soll der Mensch seine Geschwister sehen, besonders aber im Ausgestoßenen und Verworfenen, jedoch auch in Tier und Ding. In diesem Sinne erklingt auch der Ruf an Gott, der teils monotheistisch, teils pantheistisch aufgefasst wird, als ein Gott der Liebe und des Leides im Sinne des Christentums, aber doch frei von jeder konfessionellen Gebundenheit.
 

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Der Expressionismus brachte eine Zuwendung zum Religiösen

Die Wendung nach dem Inneren musste auch eine enge Beziehung zum Religiösen zur Folge haben. In der weiteren Entwicklung wird Gott zum Spirituell-Abstrakten. Und mit dieser neuen Einstellung zu dem eigenen Ich, zur der Welt und zu Gott, entsteht auch eine neue Anschauung von der Kunst.
 
Jede Sachlichkeit wird abgelehnt, allein das Ich-Erlebnis ist entscheidend. Dieses führt schließlich vom Subjektiven ins Allgemeingültige. Der Expressionismus wollte die alte Welt einreißen und eine neue schaffen. Die Wendung nach innen brachte eine enge Beziehung zum Religiösen mit sich.
 
Quellen:
Schenk, I. (2015): DEUTSCH. Lehrbrief 30, Dr. Roland GmbH, 2. Auflage, Wien
Mayer, Stephanie (2015): DEUTSCH. Literaturgeschichte 2, Dr. Roland GmbH, 8. Auflage, Wien
https://pixabay.com/de/edvard-munch-schrei-malerei-terror-1332621/ (1.6.2016)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AWalden%2C_Der_Sturm.jpg (15.6.2016) 
https://pixabay.com/de/kirche-glasfenster-farben-erbe-1381436/ (15.6.2015)